Elena Becker MA

Die Doppelgänger-Stadt oder: Leaving Bouville

>> Der Marktplatz sei "rechteckig wie eine Tür" und "vorwitzig wie eine Beamtennase": der vorspringende Rathaussturm. Der "Heimatdichter" Joseph-Maria Lutz durfte diesen Vergleich ungestraft anstellen, ohne daß ihn dafür der städtische Bannstrahl traf.

Im Gegenteil: es gibt Straßen, die nach ihm benannt sind, ein Museum und eine Schule.

Die Stadt ist eine Kleinstadt, ein Markt eigentlich, aber einer von der "traditionellen" Sorte, die in keinerlei Widerspruch steht zu N.Luhmanns nota bene nicht(!) systemischer Definition, in der vielmehr die Vorstellung eines "Subsystems" mit festen Grenzen durch die "Vorstellung, der Markt sei eine systeminterne Umwelt" ersetzt wurde.

So allein für sich aber wäre auch diese Einordnung falsch. Beides trifft irgendwie zu, ohne das andere auszuschließen und auf einer Skala zwischen der "Agora" Athens und den Produkt- und Geldkreisläufen, die heute als "Markt" bezeichnet werden, scheint der alte Marktplatz doch etwas näher zu Griechenland zu liegen als zu den Börsenmärkten in New York.

An den Markttagen ist der Marktplatz, wie J.-F. Lyotard (Intensitäten) formulierte, im Inneren "überschwemmt", jedoch nicht an "flüssiger" Energie, sondern an "dinglicherer" Substanz, an Produkten aus der landwirtschaftlichen Umgebung, denn die Stadt, die "Stätte" (Hegels) fungiert immer noch als Zentrum, obwohl es zugleich selbst in die Peripherie gerückt ist, näher zur 50 km entfernten Großstadt.

Das ist Thomas Manns "Lichtstadt" und das ist hier ganz wörtlich zu nehmen: das "Leuchten" am südlichen Himmel kommt von der nah-fernen Großstadt. Zu manchen Zeiten aber war es auch ein Wetter- oder ein flackerndes Kriegsleuchten.

Es gibt Verbindungen, die das innerstädtische "Cogito", wie Descartes sagt, bzw. die Existenz (Sartre) auf die "andere" Stadt hin ausdehnen und umgekehrte Anbindungen, die die Dorfstraßen invasionsartig in Autobahnen verwandeln.

Aber man hält sich in seiner Kreisstadt wie in einem geschlossenen "circulus", einem Kreisel, der sich ganz um sich selbst dreht.

Keine Scheinwirklichkeit nur, sondern bis heute eine städtische Realität, die nichts mit postmoderner "Urbanität" gemein hat, auch wenn der sanierte Stadtplatz ein wenig "avantgardistische" Tendenzen anweht, die man im postmodernen Jargon "Gentrification" nennt, Zentrumsbelebung.

Es gilt, "dabei" zu bleiben. Man ist und gibt sich auch immer gern kulturell "progressiv", aber man kann es auch für in Ablenkungsmanöver halten -von einer eher rigiden Mentalität, die in der "keltischen" Stammeskultur wurzelt, jedoch von der eher grobschlächtigen Seite, wie man deutlich am harten, fast bellenden Zungenschlag hört, der sich duch die Lust am "Skandieren" und Skandalisieren noch verdoppelt (skandinavisch wird man so nicht). Andere Einflüsse existieren nicht oder anders: werden ignoriert.So fällt auch die typische Charakteristik aus: man hält sich für die Mitte der Welt und sich überhaupt für das höchste und größte. Wie ein römischer Geschichtsschreiber einmal notierte: sie (die Kelten) setzen gerne herab, aber bösartig sind sie nicht. Doppeltes Fragezeichen. Man braucht aber nicht so weit in die Geschichte zurück zu gehen, um ihre Neigung zum Fanatisieren, schon gar in einer Kleinstadt, zu registrieren.

Es gibt auch "dunkle" Kapitel, die lokalhistorisch "aufgearbeitet" werden mußten, als -marktrelevante- "Schlüsselereignisse" (Luhmann) würde man sie nicht bezeichnen, obwohl und weil ja alles in einem un-mittelbareren, "schicksalhaften" und interpretativen Zusammenhang des -kategorisierenden- Sehens, Denkens und Meinens steht.
"c´est l´atmosphère´..., où la fortune ne dépend que de l´interpretation de ce que pense autrui,..."

Das "spricht" für Selbst-Referenz, von der man in der Postmoderne behauptet, sie sei an die Stelle der Fremdreferenz getreten, also habe in der Selbstbezüglichkeit den Objektbezug vollends absorbiert.

Auch das will man so nicht ganz stehen lassen. Wer auf dem Markt einkauft, "weiß" noch, was Lebens-"mittel" sind und bedeuten.

Aber sinnfällig wird auch hier der Übergang zum "Zeichenhaften" (H.-G. Vester), das "selbstreferentiell" auf sich selbst verweist, das -konkrete- Zentrum.

Sinnfällig: an einem der Ortsaus-ein-gänge ist ein Ortsschild aufgestellt, auf dem in großer Schrift "Kreisstadt" steht und etwas kleiner darunter: P. So klingt H.- G.Vesters Feststellung
"Nicht die Bezeichnung durch die Zeichen steht im Vordergrund, sondern die Lust am Zeichenhaften" (ebd.) ungewollt ironisch.

Es sei denn, N. Luhmann träfe den Nagel damit eher auf den Kopf : "Statt dessen hat dieser Markt als einziger Markt in sich eine hierarchische Struktur entwickelt", was aber nach Luhmann vorausetzen würde, daß sich die Stadt entweder "mithilfe" einer anderen Organisationsmacht (z.B. Banken) neu strukturiert oder aber sich selbst d.h. ihrer organisatorischen Funktion "hypothetisch" unterstellt hat.

"Learning from Las Vegas", der Stadt, die auf Geld, Schein und Spielsucht erbaut ist und aus der es kein Herauskommen mehr zu geben scheint wie aus anderen -fiktiven- Orten, Pleasentville, New York, das "muß" hier aber auch nicht sein. Das wäre "zuviel" an Fremdreferenz.

Die Stadt ist, bleibt, empfindet sich als ihr eigener, "selbstreferentieller", reproduktiver Ursprung, trotz mancher Simultaneitäten und Parallel - Existenzen (8 gleichnamige Städte gibt es, davon 7 in Süddeutschland).

Sie stellt das dar, was an H. Bergsons "milieu" erinnert, also einen "dauerhaften" Seinszustand, der jeder interaktiven Sozialität als dynamischer, interdependenter Bezug vorausliegt und in dem Konkurrenzen scheinbar atmosphärisch und wie in einem un-endlichen Spiegelspiel ausgetragen werden.

Der Vergleichspunkt jedoch ist, anders als in Aglietta/ Orléans Behauptung, fest im Inneren fixiert oder in absichtlicher Asymmetrie de-zentral.

Gerade manche karnevaleske Inszenierung scheint bestrebt, eine Ex-zentrik eher im wörtlichen Sinn, also eine von sich weg- und über sich hinausgehende Blickrichtung einzunehmen, in der die Absicht liegt, sich durch den "Vergleich" mit dem -noch- größeren Kulturzentrum dimensional, in Luhmann Wort: zu "verdoppeln".

Ganz so, als würde man in einen Lift steigen, um in ein Hochhausstockwerk zu gelangen, das hoch über dem "pasticheartigen" Spiegelkabinett des Inneren und der -homologen- Vergleiche mit dem Gleichartigen liegt, die einen dazu brächten, sich nicht mehr auszukennen, ja, das Gefühl der bloß "zufälligen Existenz" geben können, von der J.P. Sartre in seinem autobiografischen Roman schrieb, den er in der realen- Kleinstadt "Bouville" ansiedelte.

Warum aber wirkt der "größere" Vergleich nicht so, sagen wir: be-leidigend, wie der "homologisierende", der auf Gleichordnung basiert und darauf hinausläuft?

Er ist, einfach gesagt, nur eine Parallele ohne Aufstiegschancen. Denn das Streben nach Aufstieg ist nicht nur auf das bürgerliche Individuum beschränkt, sondern ist, wenn auch ausgehend von Einzelnen, in der "Stadt" vervielfacht, durch einen, wie J.P. Sartre in "Kritik" herausfand: Effekt der Vergleich-zeit-igung oder, wie N. Luhmann dazu sagen würde: durch Temporalisierung. So "kann" und darf auch die Zeit scheinbar stehen bleiben, aber nicht stillstehen.

Des einen Kleinstadtfieber, des anderen "Blues".

Das scheint eine Binsenweisheit zu sein. Frank Sinatra "huldigt" der Stadt, "that never sleeps" und auf der anderen Seite: das Leid (!) der städtischen Schlaflosen, von dem P. Virilio ("Sehmaschine") spricht.

Es gibt noch ein weiteres Leiden. Wie J.P. Sartre in "Das Sein und das Nichts" konstatierte, ist die Stadt auf dem Land für den Bauern wohl das Zentrum, das seinen Bedürfnissen vollauf entspricht, nicht aber für den Philosophen, der am gleichen Ort lebt.

Genau gesagt: für den Philosophen J.P. Sartre, der als Philosophielehrer in "Bouville" unterrichtete und dort ein äußerst "unglückliches Bewußtsein" (Hegel) entwickelte.

Er beschließt, die Stadt zu verlassen. "Ich werde mich einmal fragen, was ich in B. tagein- tagaus gemacht habe", schreibt er.

Nein, eigentlich ist es ein im tiefsten ontologischen Sinn "gelangweiltes" Dasein, das der junge Existentialist empfindet, Langeweile und -routinemäßige- Gewohnheit, die ihn wie Fäden durch sein Leben ziehen.

"Es ist eine tiefe, tiefe Langeweile", schreibt Sartre in seinem Roman,"das tiefsitzende Herz, der Stoff, aus dem ich gemacht bin".

Bouville, die Hafenstadt und Pfaffenhoffen, das sich wie "hoffen" schreibt und im Elsaß liegt, sind -autobiografische- "Stationen" J.P. Sartres, Orte des -den Philosophen- umgekehrt "heimsuchenden" Seins:

Sartre stammte wie sein Großonkel, der Nobelpreisträger Albert Schweitzer aus dem -elsässischen- Pfaffenhoffen, das sich jenseits einer unsichtbaren -topologischen- "Falte" (Deleuze/ Guattari) eines un-bewußten "Sich" zu befinden scheint und über die gleichen ökonomischen (Hopfenanbau) wie topologischen Attribute verfügt wie die "andere" Stadt auf der anderen Seite der Falte : 3 "symmetrische" Nachbarorte, die die selben Namen tragen.

Eine urbane "Dyade" (Sartre) geradezu, die sich in ihren umliegenden "Peripherien" spiegelbildlich vervielfacht und doch mehr oder weniger un-bewußt ist.

Man lebt "Rücken an Rücken" in einer fast methodischen Weise des mit Heidegger ausgedrückt: systematischen Sich-Verkennens.

Und vielleicht "will" man auch nichts voneinander "wissen", trotz einer ziemlich "wahrscheinlichen" -genetischen- Abängigkeit.

Sie bleibt, wie das "andere" eingeschlossen und stumm in der sehnsuchts-losen "Positivität" des Eigenwerts und -wirklichkeit. E.B.